Der Beirat des GeReNet.Wi / Forum Demenz widmete sich in der Märzsitzung 2024 dem Thema „Angehörige“. Im Folgenden werden die vier Vorträge zusammengefasst, die die unterschiedlichen Perspektiven in der Demenzversorgung darstellen.
Rebecca Borchert, Sachgebietsleitung der Beratungsstellen für selbständiges Leben im Alter, referierte aus Sicht des kommunalen Sozialdienstes über „Die Rolle der Angehörigen in der Versorgung und wenn Angehörige fehlen“. Pflegende Angehörige sind, so Borchert, eine zentrale Ressource im Pflege- und Unterstützungssystem. Sie leisten im Haushalt lebend im Schnitt fünf Stunden Unterstützung täglich – nicht im Haushalt lebende immerhin noch zwei Stunden. Da viele Pflegepersonen sich hoch belastet fühlen und oft ihre eigene Gesundheit vernachlässigen, sind Pflegearrangements oft fragil. Fallen pflegende Angehörige weg, führt das bei den Pflegepersonen häufig zu einer akuten Unterversorgung. Anhand eines Fallbeispiels erläutert Borchert, dass auch bei größter Überforderung der pflegenden Angehörigen oftmals notwendige Hilfen abgelehnt werden. Erst wenn Situationen eskalieren, kann ein Notfall dazu führen, dass die Einsicht der eigenen Hilfebedürftigkeit entsteht und die Bereitschaft zur Annahme von Hilfen wächst. Die Kooperation mit dem Rettungsdienst und eine von ausdauernder Beziehungsarbeit geprägte Arbeitsweise ermöglichen den Beratungsstellen in solchen Fällen die Einleitung notwendiger Maßnahmen zur Stabilisierung der häuslichen Situation.
Dr. Susanne Springborn stellte die hausärztliche Perspektive auf die Rolle der Angehörigen dar. Sie wies auf die Überforderung pflegender Angehöriger hin und betonte die Bedeutung von Netzwerken, besonders an der Schnittstelle Medizin und Soziale Arbeit. Multiprofessionelle und sektorenübergreifende Arbeit im Quartier ist im CURANDUM selbstverständlich und Schlüssel zum Erfolg. Die Zusammenarbeit mit der Case-Managerin ermöglicht die Einbindung von Angehörigen in die Versorgung. Bei Menschen ohne pflegende Angehörige ist es wichtig, die Bedarfe zu identifizieren und lokale Unterstützungsnetzwerke zu nutzen. Der Mensch im Mittelpunkt und wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe stellen dabei die Grundlage für die Arbeit im Versorgungsverbund CURANDUM e.V. dar.
Arne Evers, Pflegedirektor und PDL des St. Josefs-Hospital Wiesbaden, betonte in seinem Vortrag die ambivalente Rolle der Angehörigen im Krankenhaus – zwischen Aggression und Kümmerern. So käme es z.B. in Notaufnahmen von Kliniken immer häufiger zu Gewalt gegenüber dem Klinikpersonal - oft aufgrund nicht erfüllbarer Erwartungshaltungen (auch der Angehörigen) gegenüber dem unter Druck stehenden Personal und begünstigt durch Alkohol, Drogen und psychiatrische Erkrankungen. Das St. Josefs-Hospital reagiert auf die aggressiven Attacken (nicht nur ein Notaufnahmen) mit Fortbildungen wie Deeskalationstraining oder auch Selbstverteidigungskurse für das Klinikpersonal. Klar ist für Evers: Angehörige im Krankenhaus machen Arbeit, gleichzeitig sind sie aber auch eine sehr wichtige Ressource. Sie haben eine hohe Bedeutung als rechtliche Vertreter, bei der Abklärung der häuslichen Situation, der Feststellung eines mutmaßlichen Willens oder auch als Dolmetscher. Im Projekt „aktives Angehörigentelefonat“ wurden strukturierte Vorgehensweise entwickelt: Täglich erhält eine Bezugsperson einen Telefonanruf eines Klinikmitarbeiters. Dies führt nicht nur zu einem verbesserten Informationsaustausch, sondern reduziert auch die Anzahl eingehender Telefonate und dadurch Lärm- und Arbeitsbelastung in der Notaufnahme.
Anja Selle-Uersfeld von der Alzheimer Gesellschaft Wiesbaden berichtete über die besonderen Herausforderungen von an Demenz Erkrankten und deren An- und Zugehörigen. Im Krankheitsverlauf einer Demenz kommt es zu diametral entgegenstehenden Entwicklungen bei den Menschen mit Demenz und deren Versorgenden. Während bei den Erkrankten Aufmerksamkeit, Geduld, Einfühlungsvermögen und letztendlich die Fähigkeit zur Übernahme von Aufgaben und Rollen abnehmen, werden diese Qualitäten von den Versorgenden immer mehr gefordert. Angehörige tragen als „größter ambulanter Pflegedienst Deutschlands“ hierzulande den größten Beitrag zur ambulanten Pflege. Sie sind jedoch nicht nur als gesellschaftliche Ressource zu betrachten, sondern auch als hoch belastete Personengruppe. Die Hälfte aller Pflegenden erkrankt während der Pflege psychisch oder physisch! Selle-Uersfeld formulierte zahlreiche konkrete Forderungen zur Entlastung von Angehörigen – so z.B. übersichtlichere Finanzierungssysteme, schnellere Termine bei Fachärzt:innen, klare Ansprechpersonen und mehr Transparenz bei freien Pflegeplätzen.
Die Stärkung von pflegenden Angehörigen ist auch im Koalitionsvertrag der hessischen Landesregierung festgeschrieben und stellt schon seit langem einen Handlungsschwerpunkt in der Netzwerkarbeit dar. Zukünftig wird im GeReNet.Wi ein besonderes Augenmerk auf Menschen ohne Angehörige in der Versorgung gerichtet werden.